Sonntag, 6. Dezember 2015

Amtshilfe.

Am Donnerstag war ich mit meinen Schützlingen auf dem Sozialamt. Anfang des Monats werden den Flüchtlingen ihre Sozialhilfeschecks ausgezahlt, und dementsprechend war es unaussprechlich voll auf dem Amt. Die Damen (ich habe nur einen Mann gesehen), die dort arbeiteten, behielten dennoch die Ruhe und eine erstaunlich freundliche Art. Wir haben etwa eine Stunde gebraucht, bis wir (ich) kapiert haben, dass man sich in einem Raum hätte anmelden sollen, ein Vorgang, der noch eine weitere halbe Stunde verbraucht hat.
Das hätte schneller gehen können, aber ich hatte mich auf die Information des Übersetzers verlassen, der bisher immer mitgegangen war  - er hatte mir einen genauen Termin und ein genaues Büro genannt, vor dessen Tür wir dementsprechend herumlungerten. Da aus allen anderen Bürotüren in regelmäßigen Abständen Menschen hervortraten und Personen aufriefen, habe ich erstmal geduldig gewartet. In dem Sinne bin ich vielleicht nicht die ideale Amtsbegleitung, denn ich warte auf Ämtern immer sehr geduldig und häufig zu lange, gerne auch vor der falschen Tür. Irgendwann wurde es mir aber doch zu bunt, und dann konnte ich immerhin auf Nachfragen erstens den Fehler verstehen und zweitens begreifen, was wir stattdessen tun sollten.
Irgendwann wurden wir dann doch aufgerufen und konnten zur großen und ehrlichen Freude der Mitarbeiterin die inzwischen organisierten Bankverbindungen für die Mädchen aufnehmen lassen. Zukünftig müssen sie diese Warterei also nicht mehr mitmachen - mit Anfahrt hat die ganze Aktion fast vier Stunden gekostet, an einem Schultag... (Die Mädchen nehmen nämlich neben meinem kleinen nachmittäglichen Privatunterricht auch an einem "richtigen" Deutsch-Grundkurs für Flüchtlinge teil.)

Und dann habe ich doch noch die Ellbogen ausgefahren, und mir rasch einen Notfall-Termin für einen jungen Mann aus Eritrea erkämpft, den wir nun auch unter unsere Fittiche genommen haben. Er ist ebenfalls schon seit August hier, hat aber bisher noch nicht einmal Taschengeld erhalten. Er war alleine angekommen und hat einen Großteil der Zeit schlafend auf dem Zimmer verbracht, ohne Kontakt zu anderen Eriträern und offenbar mit einer mittelschweren Depression kämpfend. Seitdem wir ihn "entdeckt" haben, ist er in ein anderes Wohnheim umgezogen, wo er näher an einer Gruppe aus Eritrea ist, die sich um ihn kümmern kann, hat eine "Aufenthaltsgestattung" (eine Art Ausweis)bekommen, hat sein rückständiges Taschengeld abgeholt, sodass er ein paar warme Kleidungsstücke besorgen konnte, und nun versuchen wir, ihn ins "System" einzuspeisen, damit er endlich, wie die anderen auch, seinen Asylantrag ausfüllen kann.
Morgen früh gehe ich mit ihm aufs Sozialamt und hoffe bloß, dass er alle notwendigen Papiere dabei hat. So kompliziert ich diese ganzen Amtstermine und Formulare schon finde, so rätselhaft ist es mir, wie die Flüchtlinge, die unbegleitet durch die Korridore irren sich zurechtfinden.

Übrigens kenne ich viele Menschen, die eigentlich gerne helfen würden, aber sich den Deutschunterricht nicht zutrauen oder auch keine Fremden in ihr Zuhause einladen wollen - Begleitung bei diesen Amtsgängen ist eine sehr hilfreiche Sache, die wirklich jeder leisten kann.
Nicht nur sind die Begleiteten froh, dass jemand sie bei der Hand nimmt, auch die Mitarbeiter freuen sich über deutsche Ansprechpartner*innen. Nicht aus irgendeinem institutionalisierten Rassismus heraus - obwohl es den sicher auch vereinzelt gibt - sondern weil die Kommunikation einfach schneller klappt. So konnte ich beispielsweise die Information, warum das Kindergeld für das kleine Baby fehlt und wie es nachgezahlt wird, viel schneller aufnehmen, und auch gleich noch einen formlosen Antrag für Winterschuhe schreiben (die Mädchen laufen immer noch ohne Socken in Ballerinas herum. Zwar finden sie es jetzt bei relativ milden 10°C schon kalt, aber was sollen sie erst sagen, wenn der "richtige" Winter einbricht? So warm wird es nicht bis März bleiben...). Ein formloser Antrag reicht tatsächlich völlig aus, aber bis die Mädchen den geschrieben hätten (oder verstanden hätten, worum es geht, wäre viel Zeit ins Land gegangen). So mussten sie nur schnell unterschreiben, und ich konnte später in Ruhe alles erklären (bzw. den Übersetzer ans Telefon holen und ihn übersetzten lassen), ohne dass dadurch der Verkehr in der Amtsstube aufgehalten worden wäre.
Also, für alle noch Unentschlossenen - wenn Ihr einen festen Vormittag/Tag pro Woche einbringen könnt - füllt mit Flüchtlingen Formulare aus, begleitet sie aufs Amt, unterstützt sie mit den Formalien.
Freut Euch darüber, wie völlig überlastete Angestellte ruhig und freundlich bleiben und dankt Ihnen mit freundlichen Worten.
Und freut Euch mit den Betreuten, dass sie wieder einen Schritt weitergekommen sind.

Samstag, 14. November 2015

Deutsch für Flüchtlinge.

Seit vier Wochen ungefähr fahre ich dreimal in der Woche ins Übergangswohnheim und unterrichte dort Deutsch. Meine Schülerinnen sind drei junge Frauen um die 20, die vor einigen Wochen aus Eritrea gekommen sind. Sie begrüßen mich strahlend und nötigen mich, mich zu setzen. Dann gibt es erst einmal Tee. In das Teewasser im Wasserkocher werfen sie immer einige Nelken, sodass das Wasser eine leicht rostige Farbe hat und aromatisch duftet. Damit gießen sie dann schwarzen Tee auf, in den sie erstaunliche Mengen Zucker rühren - die einzige Süßigkeit, die ich bisher bei ihnen gesehen habe.
Oft gibt es dann auch noch etwas zu essen - meist eine Art Pfannkuchen mit einer extrem scharfen Sauce,  oder Salat, oder auch ein sehr leckeres, süßliches Hefebrot. In jedem Fall wollen Sie mir etwas anbieten, und ich kann ihnen die Gastfreundschaft nicht abschlagen - auch wenn ich oft gar keinen Hunger habe, weil mein Besuch außerhalb meiner eigenen Essenszeiten liegt, verstehe ich, dass sie mir etwas zurückgeben wollen.
Unterhalten können wir uns beim Essen noch nicht, aber das ist egal. Sie schwatzen miteinander, ich höre zu und freue mich, dass sie so fröhlich wirken. Nach ungefähr 20 oder 30 Minuten fangen wir an. Die Frauen holen ihre Collegeblöcke und Stiftemappen und wir beginnen mit einer kleinen Wiederholung. Wir haben mit ganz einfachen Phrasen begonnen. Ich heiße... ich komme aus... ich wohne in... Wenn wir ein Verb lernen, schreibe ich die Präsens-Konjugation in tabellarischer Form auf und markiere die Endungen farbig. Inzwischen achte ich sehr genau darauf, dass die Mädchen mitschreiben und auch korrekt abschreiben - meine Handschrift ist zwar gut, aber eben keine Druckschrift, und die lateinischen Buchstaben sind eindeutig nicht die erste Schrift, sondern fremd. Also korrigiere ich, damit sie nichts falsches lernen. Wir haben Begriffe zur Zeit (Stunden, Tage, Wochen, Wochentage, Monatsnamen) durchgenommen und die Zahlen. Zahlen sind schwierig, weil wir so blöd von hinten nach vorne zählen - einundzwanzig statt zwanzigeins. Aber Übung macht den Meister. Ich habe Supermarkt-Werbezettel mitgebracht und die Namen der wichtigsten Lebensmittel durchgenommen - gleich mit den Preisen (Zahlen üben!), damit sie auch dafür ein Gefühl entwickeln können.  Zuletzt haben wir uns verstärkt um Fragen und Antworten gekümmert - inklusive Satzbau mit Verb auf der Zwei (W-Fragen) und auf der Eins (Satzfragen).
Die Mädchen sind unterschiedlich schnell in der Auffassung, aber auch in der Konzentrationsfähigkeit. Eine kann bei weitem nicht so gut lesen wie die anderen und tut sich auch mit dem (lateinischen) Schreiben schwerer. Aber zu dritt gelingt es ganz gut, dass sie sich auch gegenseitig helfen können. Jede Woche geht es ein bisschen besser.  Und natürlich sind die Anfangserfolge die schönsten - wenn auf einmal Verständnis dämmert und sie anfangen zu strahlen, weil sie ein Wort oder ein Prinzip verstanden haben.
Ab Montag gehen zwei der drei fünf Stunden täglich in einen zwölf-wöchigen Intensivkurs. Die junge Mutter geht nicht mit, wahrscheinlich weiß sie nicht, wohin mit dem Baby. Ich werde so weitermachen wie bisher - nur dann eben nachmittags. Inzwischen habe ich auch ein bisschen taugliches Lehrmaterial aus Büchern, Heften, Internet zusammengetragen. So lernt die junge Mutter zwar weniger als ihre Freundinnen, wird aber nicht ganz abgehängt. Und die anderen beiden können das, was sie im Intensivkurs lernen, mit mir nacharbeiten und mit ihrer Freundin teilen - ich bin gespannt.

Samstag, 24. Oktober 2015

Zu Besuch im Containerdorf.

Heute war ich zu Gast im Containerdorf.
Die Freundin, der ich erzählt habe, dass ich mal DaF unterrichtet habe, hat mich beim Wort genommen. Heute hat sie mich drei jungen Frauen aus Eritrea vorgestellt, die sich vor 8 Monaten zu Fuß auf den Weg gemacht haben. Eine von den dreien war die ganze Flucht über schwanger und hat gleich nach ihrer Ankunft hier ein kleines Mädchen geboren. Mit dem Vater ist sie nicht verheiratet. Wer er ist? Wo er ist? Ob er auch ein Flüchtling ist? Ob das Kind in gegenseitiger Liebe gezeugt wurde? - keine Ahnung, und ich werde auch nicht fragen. Es geht mich nichts an. Aber ich kann mir kaum vorstellen wie es gewesen sein muss, zwei junge Frauen, Anfang 20 erst, gemeinsam auf der Flucht (die dritte kam erst hier in Deutschland dazu), dazu zu die Schwangerschaft... alleine in einem fremden Land, in dem man die Sprache nicht spricht, ein Kind zu bekommen...
Immerhin dank dieses Kindes, musste sie nur zwei Nächte in der Zeltstadt wohnen, bevor sie ein Zimmer im Containerdorf bekam - ein Doppelzimmer, ganz allein für sie und ihr kleines Töchterchen. Die Freundin, die sie die ganze Zeit begleitet und unterstützt hat, durfte auch ins Containerdorf, aber sie muss ihr Zimmer wahrscheinlich demnächst mit einer Fremden teilen. Unterbringungsmöglichkeiten sind rar geworden in den letzten Monaten.
Heute wurde zur Feier irgendeines Heiligen ein Festmahl aufgetischt. Die jungen Frauen haben gekocht - es gibt Pfannkuchen, die als Löffel dienen für die Linsen, das Kohlgemüse und das Fleisch in Paprikasauce. Höllisch scharf, aber köstlich! Wir sitzen beisammen und fremdeln ein bisschen, die Verständigung ist noch schwierig. Ein etwas älterer Mann, schon vor 27 Jahren aus Eritrea hierher gekommen, kann übersetzen und erzählt von den vergleichsweise komfortablen Umständen seiner Einreise nach Deutschland, damals. Er konnte sich den Schlepper aussuchen, kam mit dem Flugzeug, zahlte erst nach der Landung in Frankfurt. Heute zahlt man das fünffache im Voraus und geht zu Fuß teilweise durch Kriegsgebiete - Sudan, Libyen, Syrien, Libanon...
Die Stimmung ist gut. Alle sind etwas schüchtern, aber das Zimmer ist hell und sauber und hat eine Tür, die man schließen kann, um einmal für sich zu sein. Jetzt aber ist es voller Menschen, die einfach froh sind hier zu sein - und nicht mehr dort. Sie wollen Deutsch lernen, in die Schule gehen, arbeiten. Sie müssen warten. Schon die Registrierung ist zeitaufwendig. Bis ein Asylantrag gestellt werden kann, vergehen Monate. Bis über ihn entschieden wir vergeht noch mehr Zeit. Zeit, in der sie wenig tun können - denn woher den Sprachkurs nehmen, den man bräuchte, um in irgendeiner Form am Leben teilhaben zu können?
"Meine" Mädchen haben Glück. Sie haben einen gut integrierten Landsmann getroffen, der ihnen mit den Papieren und Behördengängen hilft. Sie haben meine Freundin getroffen, die ihnen mit dem Baby hilft (sie ist Hebamme) und sie zum Essen einlädt und auf den Rummel. Und die mich angesprochen hat, ob ich den drei Mädels nicht Deutsch beibringen könnte. Ich kann. Montag fangen wir an.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

#bloggerfürflüchtlinge

Schon vor zwei Monaten, am 23. August las ich zum ersten Mal von der Aktion "Blogger für Flüchtlinge". Gleich mehrere Blogger in meiner Filterblase beteiligten sich bzw. waren gleich unter den Mitgründern der Aktion. 
Andere wiederum berichten regelmäßig auch ohne den Hashtag #bloggerfürflüchtlinge über Flüchtlinge und Vertriebene in Hamburg, in Deutschland, in der Presse.
Die Nachrichten sind voll davon und jeder hat eine Meinung.
Glücklicherweise ist die Meinung in meiner direkten Umgebung schlimmstenfalls zurückhaltend-indifferent. Vielleicht liegt es daran, dass unsere familieneigenen Flucht-und Migrationserfahrungen weniger als eine Generation entfernt sind:
Meine Großeltern, mein Vater, mein Onkel, meine Tante wurden mit der gesamten Dorfgemeinschaft von den Russen vertrieben - das ist jetzt etwa 70 Jahre her, mit dieser Geschichte bin ich aufgewachsen. Und obwohl es nur um ca. 400 km ging in ein Land, dessen Sprache man sprach und dessen Kultur man teilte, so waren mein Vater und seine Geschwister zeitlebens entwurzelt - denn sie sind nicht freiwillig gegangen.
Mein Bruder, wie ich aufgewachsen mit Erasmus-Programm und Europäischer Union, ist nach dem Studienabschluss mit dem Umweg über Portugal nach Spanien ausgewandert, wo man als Architekt leichter Arbeit fand als in der Studienstadt Aachen - ich glaube nicht, dass er zurück kommt. (Es ist sehr schön, da in Spanien.) Auswandern, damit es ihm woanders besser geht - ein klassischer "Wirtschaftsflüchtling"! Von den drei Söhnen meiner Tante lebt einer in den USA und einer in Australien, weil sie dort Arbeit und die Liebe gefunden haben - ebenfalls "Wirtschaftsflüchtlinge"?
Und wenn schon! Sie wollen arbeiten, sie dürfen arbeiten, und so profitieren alle Seiten davon.
Das ist auch wissenschaftlich belegt. (Und wenn ich den Link wiederfinde, reiche ich ihn nach.)

Bisher hat mir gegenüber jedenfalls noch niemand geäußert, dass "wir" "das" nicht "schaffen" - entschuldigt die ganzen Gänsefüßchen, aber wer ist "wir"? was heißt "das" genau? Definiere mal "schaffen" - was soll denn das Ziel sein? Und über welchen Zeitraum?
Ich habe zwar den Verdacht, dass auch ich Verwandte, Freunde oder Bekannte habe, die sich direkt oder indirekt unwohl fühlen bei dem Gedanken an die wachsenden Flüchtlingszahlen. Bestimmt machen sich viele Gedanken darüber, wie "man" mit der Situation umgehen kann, soll oder muss. Fakt ist aber, dass nur sehr sehr wenige sich bisher persönlich damit beschäftigen wollen oder müssen - es ist immer noch sehr einfach, die konkreten Personen, die täglich in Deutschland ankommen, zu ignorieren, an ihnen vorbeizuleben, ihnen im Stadtbild aus dem Weg zu gehen.

Ich will das nicht mehr. Ich habe sogar meinen facebook-Account wieder aktiviert, weil das offenbar die einzige/beste Möglichkeit ist herauszufinden, was in meiner Stadt benötigt wird, was ich tun kann. Und ich habe einer Freundin erzählt, dass ich früher mal Deutsch als Fremdsprache unterrichtet habe. Ich habe noch Lehrmaterialien aus der Zeit, ich habe Zeit, und ich habe die Erfahrung.
Was ich nicht habe? Irgendeine Ausrede, nicht zu helfen.



Mitlesen, mitmachen oder spenden könnt Ihr hier:
http://www.blogger-fuer-fluechtlinge.de/

Donnerstag, 19. Februar 2015

Schreckgespenst Studienabbruch.

Im Durchschnitt, so liest man, brechen 25 % der Studierenden ihr Studium ab - abhängig vom Fach variiert die Quote auf bis zu 30%. Daran hat auch die Bologna-Reform nichts geändert.
Immerhin - seit der Bologna-Reform machen sich immer mehr Hochschulen Gedanken darüber, warum das so ist, und wie man Studienabbrüche verhindern kann. Das ist schon einmal eine gute Entwicklung.  Selbst renommierte technische Hochschulen können sich nicht mehr darauf ausruhen, dass sich eben nur "die Besten" durchsetzen - wenn es einen Fachkräftemangel gibt, kann man eben nicht die paar Interessierten auch noch aktiv vertreiben. (Ich spreche nicht vom Senken der Anforderungen, sondern von Hilfestellung bei Schwierigkeiten.)

Vor ein paar Tagen äußerte sich Dominikus Herzberg, Informatikprofessor an der THM Giessen, in einem Artikel in der ZEIT und forderte frei kombinierbare Studiengänge, in denen Studierende ihre Stärken kombinieren und "Problemfächern" ausweichen könnten, denn "zu viele Studierende brechen ihr Studium wegen Problemfächern ab". Dies sei auch ein Problem für die Industrie, die eher an den Stärken als an den Schwächen der Absolventen interessiert sei.
"Das eine Unternehmen hätte kein Problem mit einem Informatik-Studenten, der mit dem Pflichtfach "Theoretische Informatik" nicht klarkommt. Ein Bachelor-Zeugnis mit einem Ersatz-Fach, sagen wir "Smartphone-Programmierung", wäre kein Problem. Hauptsache ein Bachelor-Zeugnis. Ein anderes Unternehmen, das sich etwa auf Steuersysteme für Autos spezialisiert hat, will die Theoretische Informatik im Zeugnis nicht missen. Die Mitarbeiter sollen die feinsinnigen theoretischen Grundlagen beherrschen, die eine Software für das Bremssystem zuverlässig und robust machen. Was sich in der Welt da draußen an Diversität nicht ausschließt, wird an der Hochschule zu einem Problem und macht Bildungsläufe kaputt." (Link aus dem Artikel)
Nun gibt es aber Gründe, warum erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Jahrzehnte hinweg Studiengänge konzipiert haben, Studienordnungen geschrieben, Pflichtfächer definiert und Mindeststandards eingeführt. Denn nicht nur in den berufsbildnahen Fächern ist es nützlich, erst Grundlagen zu lernen und erst dann Vertiefungsfächer zu wählen, wenn man einen Überblick über die zu erlernende Disziplin gewonnen hat. Vielleicht kannte man Teilbereiche des Faches bisher gar nicht, oder hatte eine falsche Vorstellung davon, wie es sich entwickelt? Studienprogramme bieten eine Hilfestellung in der Orientierung innerhalb eines Faches, und in einem Großteil der Fälle ist diese Hilfestellung auch notwendig. Ob das Studienprogramm in seiner Aufteilung sinnvoll war, kann man eigentlich erst nach der Prüfung beurteilen.

Komplett selbst zusammenstellbare Studiengänge sind hingegen weltweit sehr selten. In Deutschland kenne ich - abgesehen von einigen Schnupperstudienmodellen wie dem Tübinger Leibniz Kolleg, für das es aber keinen BA-Abschluss gibt - nur das Studium Individuale an der Leuphana Universität. Und selbst hier werden die Studierenden mit einigen Pflichtmodulen Forschungsmethoden oder Projektarbeit zumindest beim reflektierten Erwerb akademischen Arbeitens unterstützt. Das Auswahlverfahren ist sehr streng und begünstigt Menschen, die ein genaues Lernziel haben gegenüber "Schmetterlingen", die sich für alles ein bißchen und für nichts richtig interessieren. Es erfordert eine hohe Eigenmotivation, Selbstorganisation und Zielstrebigkeit. Meines Erachtens ist es eher geeignet für Menschen, die schon etwas Berufserfahrung gesammelt haben, und dabei ihre Wissenslücken schon definieren konnten.

In einem kurzen Twitter-, dann E-Mail-Austausch mit Prof. Herzberg habe ich diese Meinung auch geäußert. Zusammengefasst gibt es sehr unterschiedliche Gründe, für einen Studienabbruch, die ich in diesem Blog noch einmal besser strukturiert wiederzugeben versuche...

Mögliche Gründe für Studienabbruch
 können z. B. sein:
a) man studiert das falsche Fach/ Studiengang (und sattelt um)

b) man ist an der falschen Hochschule (und zieht um)

c) man ist an der falschen Hochschulform (und wechselt zu FH oder BA oder Uni...)

d) man ist an einem Studium eigentlich nicht interessiert/nicht dafür gemacht/hatte falsche Vorstellungen (und macht z.B. besser eine Ausbildung)
Diese Fälle kann man möglicherweise durch bessere Informationen und Beratungsangebote vor Aufnahme des Studiums vermindern oder zumindest begleiten/abfedern. Den Studierenden kann man nur raten, die Informationsangebote auch rechzeitig zu nutzen. Aber manchmal muss man eben schon im Wasser sein, um entscheiden zu können, ob es zu nass ist oder zu kalt oder zu tief oder ob man gegen Chlor allergisch ist. 
Meines Erachtens sollten Studierende, Hochschulen und Dozierende aber froh sein, wenn die Studierenden ihre Fehlentscheidung innerhalb der ersten zwei Semester merken und nicht viel Zeit verlieren. Im Gegenteil: es ist als Erfolg zu werten, wenn es zu informierten (!) Neuorientierungen kommt. Denn in fast allen Fällen bedeutet Abbruch nicht gleich "Versagen: obdachlos unter der Brücke" - sondern höchstens: eine andere Biographie als erwartet.
e) man wird durch biographische Einflüsse vom Studium abgebracht (aber gründet vielleicht ein erfolgreiches Startup, oder eine Familie, oder...)
Wenn man selbst oder Familienangehörige krank werden oder sterben, wenn man überraschend eine gut bezahlte Stelle im Ausbildungsberuf oder Nebenjob erhält, wenn einem die Stadt nicht gefällt oder man Liebeskummer hat, oder man selbst oder die Freundin schwanger wird, kurzum: wenn eines von unzähligen Ereignissen eintritt, die unser Leben beeinflussen - dann kann es zum Studienabbruch kommen. Da kann aber auch die beste Studienberatung nichts ändern. Studierende bringen ihr eigenes Leben mit, und die Hochschule ist davon nur ein Teil, und nicht immer der wichtigste. 
(Ausnahme: Geldsorgen sollten niemals ein Grund für den Studienabbruch sein - Bafög und Stipendien sollten das eigentlich verhindern. Dennoch kommt es vor - leider - denn es ist ein politisch leicht lösbares Problem.)
Aber von Studienabbrechern konkrete Gründe für den Abbruch zu erfahren ist schwierig - die meisten Absolventenbefragungen sind freiwillig, und wer im Zorn oder Frust geht, der wird sie wohl meiden.  Leider sind die Statistiken zum Studienabbruch über alle Studiengänge hinweg sehr ungenau. In der Regel werden nur einzelne Bewegungen erfasst, keinesfalls aber konkrete Studienbiografien. Das heißt, es gibt eine Schwundquote (von x Studienanfängern sind noch x-n im 2. Semester, x-n-n im 6 Semester etc), die aber keinerlei Aussage darüber trifft, wie erfolgreich ein einzelner Studierender ist. Ein oder zwei Semester länger zu studieren erfüllt viele Bacherloranwärter bspw. mit Panikattacken - dabei wird sich ein sorgfältiges Studium auf lange Sicht möglicherweise sogar auszahlen. Auch ist es schwierig, Fachwechsel konkret nachzuverfolgen - ein Fachwechsler ist aber nicht unbedingt ein Studienabbrecher. In den alten Diplom-/Magisterstudiengängen war es noch schwieriger, weil Studierende ermutigt wurden, nach der Zwischenprüfung die Uni zu wechseln -- und dadurch in der Statistik zum Abbrecher wurden.
Solange wir individuelle Studienbiographien nicht über Hochschul-, Stadt- und Länderwechsel hinweg verfolgen können, bleibt jede Aussage spekulativ.
Immerhin scheint es eine Tendenz zu geben. Fächer, die gerade am Anfang eine schlechte Abbrecherquote haben ( z. B. Informatik, Ingenieure)  haben auch gute Absolventenquoten - viele Abschlüsse in der Regelstudienzeit mit ordentlichen Noten.
Ich schließe daraus, dass v.a. die Leute schwinden, die falsche Erwartungen an das Studium hatten bezüglich Inhalten, Arbeitsaufwand, Interesse, und die anderen übrig bleiben.
 f) man fällt durch eine oder alle Prüfungen (und ergreift die Option a, b, c, d, e)
Ein solcher Fall hat den o.g. Artikel ausgelöst.
Das ist bedauerlich, besonders wenn es, wie im Artikel geschilderten Fall, die "employability" des Studierenden nicht im geringsten beeinflusst hätte. Natürlich sollten die Grundlagen des Faches beherrscht werden, aber wegen eines Vertiefungsfaches das gesamte Studium nicht anerkannt zu bekommen - tragisch. Selbst wenn ein Jurist das erste Staatsexamen nicht besteht, so hat er/sie doch 4-5 Jahre lang Jura studiert und versteht davon mehr, als jemand, der/die das nicht getan hat. Dennoch ist er/sie eben kein/e Jurist/in, und das ist auch in Ordnung.
Nicht in Ordnung ist es, dass Unternehmen sich bei Ihren Stellenbesetzungen so selten genau damit auseinandersetzen, was die gesuchte Person auf der ausgeschriebenen Stelle eigentlich können muss - wird ein Volljurist überhaupt benötigt? Hier ist die Wirtschaft in der Pflicht. Die Fixierung auf formale Kriterien bei gleichzeitigem Wunsch nach eierlegenden Wollmilchsäuen bietet Menschen mit "krummen" Biographien (oder unerwarteten Abschlüssen, Stichwort: Geisteswissenschaften in der Wirtschaft) wenig Chancen, sich zu beweisen. 
Vielleicht ist der Fachkräftemangel/Akademikermangel eben doch nicht so groß, wie immer behauptet wird?



Statistik für Motive zum Studienabbruch (2000/2008)
 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/75078/umfrage/studium---motiv-fuer-den-abbruch/

Prof. Herzberg bloggt unter 
http://denkspuren.blogspot.de/